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Die ersten 40 Tage

Wie beurteilt die jüdische Medizinethik die Stammzellforschung? Hier die Beurteilung von Yves Nordmann, Arzt und Medizinethiker.

Die jüdische Religion ist der Stammzellforschung und -therapie gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt. Die Erweiterung und der Erwerb von Wissen, welches der Menschheit zur Vermeidung und eventuell sogar Heilung von Krankheiten dienen kann, werden von der jüdischen Religion erlaubt, wenn nicht sogar verlangt.

So ist beispielsweise im Judentum, im Gegensatz zur Meinung der katholischen Kirche, die Anwendung moderner Befruchtungstechniken, wie die In-Vitro-Fertilisation (IVF), für Ehepaare unter bestimmten Bedingungen grundsätzlich erlaubt. Für viele Paare ist eine IVF die einzige Möglichkeit, eigene Nachkommen zu erzeugen und dementsprechend rege wird diese Technik auch benutzt.

Was geschieht mit überzähligen Präembryonen?

Es stellt sich dabei aber ein großes Problem: Um die Erfolgschancen zu erhöhen, werden Frauen hormonell so stimuliert, dass sie mehrere Eizellen produzieren, welche dann auch befruchtet werden. So entstehen oft so genannte „überzählige Präembryonen“, die in vielen Fällen zum eventuellen späteren Gebrauch eingefroren werden. Weltweit geht man heute von 100.000enden überzähligen Präembryonen aus. Die Gesellschaft wird damit mit vielen Fragen konfrontiert, die sich in erster Linie um das Problem drehen, welchen Status solche Präembryonen besitzen und was mit ihnen geschehen soll, falls sie nicht mehr der Mutter implantiert werden können.

Die Möglichkeiten der Stammzellforschung und -therapie erhöhen nun zusätzlich den Entscheidungsdruck. Dürfen Präembryonen aus jüdischer Sicht zu einem solchen Zwecke verwendet werden? Oder handelt es sich bei Präembryonen halachisch bereits um beseelte Lebewesen, die geschützt werden müssen? In diesem Zusammenhang von Interesse ist eine Textstelle im Talmudtraktat Sanhedrin, wo eine Diskussion zwischen dem römischen Kaiser Marcus Aurelius Antoninus und Rebbi geschildert wird:

„Und Antoninus fragte Rebbi: Wann kommt die Seele in den Menschen? Zum Zeitpunkt der Befruchtung oder [erst] bei der Bildung des Embryos um den vierzigsten Tag nach der Befruchtung? Dieser erwiderte: Bei der Bildung des Embryos um den vierzigsten Tag nach der Befruchtung. Da sprach Antoninus zu ihm: Ist es denn möglich, dass sich ein Stück Fleisch ungesalzen [auch nur] drei Tage hält, ohne zu verfaulen? Müsste es nicht eher so sein, dass die Seele bereits zum Zeitpunkt der Befruchtung eintritt? Da bemerkte Rebbi: Dies lehrte mich Antoninus und ein Schriftvers unterstützt ihn.“

Aus dieser Textstelle kann also abgeleitet werden, dass der Talmud die Meinung von Antoninus akzeptiert hat, wonach die Seele sich bereits vom Zeitpunkt der Befruchtung an im Embryo befindet. Daraus könnte nun logisch gefolgert werden, dass dem Embryo vom Zeitpunkt der Befruchtung an ein gewisser Status und somit auch eine gewisse Schutzwürdigkeit zukommen muss, was insbesondere für Abtreibungsfragen von Bedeutung wäre.

Ohne jetzt auf die gesamte Abtreibungsproblematik aus jüdischer Sicht eingehen zu wollen, ist aber folgendes festzuhalten. Anders als im Katholizismus besitzt das ungeborene Leben im Judentum nicht ab der Konzeption (Befruchtung) volle Rechte, und Abtreibungen können unter gewissen Umständen vorgenommen werden, allerdings immer nur dann, wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht.

Die ersten 40 Tage

Von besonderer Bedeutung für die Frage nach dem Stellenwert des Präembryos ist dabei die Tatsache, dass der Embryo bis zum vierzigsten Tag nach der Befruchtung im Talmud einen geringeren Status besitzt als nach diesem Zeitpunkt. Dies kann in der Praxis durchaus von Bedeutung sein, vertreten nämlich einige Rabbiner die Auffassung, dass eine Abtreibung, falls diese wirklich durchgeführt werden muss, am Besten in den ersten 40 Tagen nach der Befruchtung erfolgen soll.

Das Judentum betrachtet den Embryo aber grundsätzlich vom Zeitpunkt der Befruchtung an als „potentielle Person“ und somit als schützenswert.

Rav Untermann, ehemaliger Oberrabbiner Israels, beispielsweise zeigt auf, dass es aus halachischer Sicht erlaubt ist, die Gesetze für den Schabbattag beiseite zu schieben, wenn es darum geht, das Leben eines Embryos zu retten, mit dem Argument, dass das ungeborene Leben dadurch in Zukunft noch viele Schabbattage wird halten können. Eine Abtreibung ist in diesem Sinn generell also nur dann erlaubt, wenn Lebensgefahr für die Mutter besteht. Das ungeborene Leben zu opfern, weil das Leben eines Dritten in Gefahr ist, wie dies zum Zwecke der Stammzellforschung nötig wäre, ist vor diesem Hintergrund grundsätzlich also nicht vertretbar.

Zerstörung halachisch erlaubt

Nun besitzt der „überzählige Präembryo“ aber gemäß verschiedenen rabbinischen Autoritäten, wie dem ehemaligen sefardischen Oberrabbiner Israels, Mordechai Elijahu, oder dem aschkenasischen Oberrabbiner von Tel Aviv, Chaim David Halevi, einen Sonderstatus, da er sich einerseits außerhalb des Mutterleibs befindet und dort sowieso nicht lebensfähig ist und er sich andererseits auch eindeutig weniger als 40 Tage entwickelt hat. Kann ein solcher Präembryo nicht weiter verwendet werden, so ist gemäß diesen Autoritäten eine Zerstörung halachisch erlaubt.

In diesem Zusammenhang von Bedeutung ist auch eine Entscheidung von Rav Elijashiv, einem anerkannten Entscheidungsträger. Rav Elijashiv hat nämlich in gewissen Fällen ein so genanntes Präimplantationsscreening zur Verhinderung genetischer Krankheiten und die anschließende Zerstörung von betroffenen befruchteten Eizellen erlaubt.

Folgt man der Argumentationslinie, wonach der Präembryo einen Sonderstatus besitzt und nicht geschützt werden muss, dann wäre es sicherlich besser und halachisch wohl auch vertretbar, am Präembryo zu forschen und dadurch potentiell lebensrettenden Nutzen zu gewinnen, als ihn zu zerstören. Es entspricht allgemein einer jüdischen Grundhaltung, aus einer schlechten Situation wenn immer möglich das Beste herauszuholen.

 

Rav Moshe Tendler, Professor für jüdische Medizinethik an der Jeshiwa University in New York, hat denn auch kürzlich vor der amerikanischen „National Bioethics Advisory Commission“ sehr stark für die Forschung an Stammzellen von Präembryonen Stellung bezogen. Rav Tendler kritisierte dabei auch diejenigen Kreise, die glauben, es müssten Schutzwälle aufgebaut werden, um die Heiligkeit menschlichen Lebens bewahren zu können und die deshalb eine solche Forschung verbieten wollen. Es sei jedoch falsch, Schutzwälle auf Kosten möglicher Heilungen unzähliger schwerer Krankheiten zu errichten.

 

Diese Haltung allerdings ist keinesfalls unumstritten. Rav Bleich, Direktor der Cardozo School of Law der Jeshiva University, beispielsweise steht der Forschung an Präembryonen skeptischer gegenüber. Er vertritt die Auffassung, dass das Argument, der Präembryo würde sowieso zerstört werden, wenig moralisches Gewicht besitzt. Auch bei einem schwer verletzten Unfallopfer, welches keine Überlebenschancen besitze, sei schließlich eine Tötung nicht gerechtfertigt.

 

Über die Stammzellforschung unter Verwendung überzähliger Embryonen haben sich die rabbinischen Entscheidungsträger noch nicht definitiv geäußert, dies wohl auch deshalb, weil zuerst abgewartet werden muss, welche Erfolge die Medizin auf diesem Gebiet wird aufweisen können. Dies bedeutet aber nicht, dass die Stammzellforschung derzeit aus jüdischer Sicht generell nicht vertretbar erscheint.

Unentschlossene Frauen könnten zu Abtreibungen motiviert werden

Wie oben angetönt existieren noch andere Möglichkeiten der Stammzellgewinnung, als diejenige unter Verwendung von Präembryonen. Aus jüdischer Sicht bestehen dabei keine großen halachischen Probleme mit der Forschung an adulten Stammzellen. Auch die Forschung an Stammzellen, die von abgetriebenen Föten gewonnen werden, erscheint halachisch ziemlich unproblematisch.

Es gibt aber auch hierzu kritische Stimmen: Rav Bleich beispielsweise weist auf die Gefahr hin, dass durch die Anwendung dieses Forschungsmethode unentschlossene Frauen eher zu Abtreibungen motiviert werden könnten, was die Sache komplizieren würde. Rav Bleich ist auch ein Vertreter derjenigen Autoritäten, die dem Klonen gegenüber, beispielsweise zum Zwecke der Stammzellforschung, skeptisch gegenübersteht, dies im Gegensatz zu anderen Rabbinern.

 

Abschließend lässt sich festhalten, dass es wohl der Meinung der meisten rabbinischen Autoritäten entspricht, dass andere Methoden der Stammzellforschung als diejenige mit der Beteiligung überzähliger Embryonen bevorzugt werden sollten. Man darf schon jetzt gespannt sein, wie der Status des Präembryos, der sich außerhalb des Mutterleibs befindet, im Zusammenhang mit der Stammzellforschung von den rabbinischen Entscheidungsträgern beurteilt wird.“



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