Grundlagen der evangelischen Ethik zur Forschung
Christliche Ethik bejaht die Orientierung der Wissenschaft an den Aufgaben des Heilens und Helfens. Doch der Verweis auf solche Heilungsmöglichkeiten kann nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch welche der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird.
Aus der christlichen Perspektive sollte das Handeln in der Wissenschaft die Orientierung am Nächsten suchen und sich die Frage stellen, was ihm zu Gute kommt. Diese Frage spielt in den forschungsethischen Kontroversen unserer Zeit eine große Rolle. So wird die Chance, neue Heilungsmöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten zu finden, zum Beispiel bei der embryonalen Stammzellforschung als Begründung herangezogen. Christliche Ethik bejaht die Orientierung der Wissenschaft an den Aufgaben des Heilens und Helfens. Doch der Verweis auf solche Heilungsmöglichkeiten kann nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch welche der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird. Deshalb wird sich christliche Ethik stets dafür einsetzen, dass zu wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die wegen der Gefahr der Verdinglichung des Menschen problematisch sind, Alternativen gesucht werden. Die Forschung mit adulten statt mit embryonalen Stammzellen oder der Zugang zu Stammzellen mit vergleichbaren Eigenschaften ohne den Weg über die Herstellung menschlicher Embryonen (zum Beispiel induzierte pluripotente Stammzellen, iPS) sind Beispiele hierfür.
Glaube und Erkenntnisdrang stehen nicht im Widerspruch
Die evangelische Ethik fühlt sich auch der Suche nach Wahrheit verpflichtet, die mit der wissenschaftlichen Forschung eng verbunden ist. Die christliche Perspektive schließt die Einsicht ein, dass die Wahrheit des Ganzen stets größer bleibt als die vom Menschen erkannte Wahrheit. Kein wissenschaftlicher Fortschritt kann diese Differenz zwischen der jeweils erkannten Wahrheit und der Wahrheit in ihrer Fülle aufheben. Das gibt der menschlichen Wahrheitssuche einen kritischen und zwar vor allem selbstkritischen Sinn, die der Wissenschaft gut ansteht. Ähnliches gilt auch für die Freiheit des Menschen, die die Freiheit zum Forschen einschließt. Der Glaube, dass Gott die Welt geschaffen hat samt allen Kreaturen, schließt mit ein, dass wir uns um das Verstehen dieser von Gott geschaffenen Welt bemühen. Die geschaffene Welt ist Gegenstand menschlichen Erkennens. Glaube und der Drang nach Erkenntnis stehen zueinander nicht im Widerspruch. Damit bejaht die evangelische Ethik die Freiheit der Forschung. Sie mahnt aber stets auch die Verantwortung an, die der Mensch seinem Handeln zugrunde legen muss.
Die Verführbarkeit des Menschen
Neben der Orientierung an der Wahrheit und an der Freiheit des Menschen, die seine Freiheit zum Forschen einschließt, sowie an der Liebe zum Nächsten als dem verbindlichen Horizont alles menschlichen Handelns, bringt die Theologie noch einen weiteren Gesichtspunkt in den wissenschaftsethischen Diskurs ein: Das ist die Verführbarkeit des Menschen und die Zerstörung seiner Lebensbezüge, die ihre tiefste Wurzel in der Störung seiner Gottesbeziehung, also in der Sünde, hat. Mit dieser theologischen Perspektive ist die Einsicht verbunden, dass auch die guten Möglichkeiten des Menschen in ihr Gegenteil verkehrt werden können, die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis eingeschlossen. Diese guten Möglichkeiten des Menschen können missbraucht werden zur Verkehrung der Wahrheit, zur Stillung persönlichen Ehrgeizes oder zur Instrumentalisierung anderer Menschen. Deshalb braucht die Wissenschaft einen klaren rechtlichen Rahmen, eine institutionalisierte Selbstkontrolle sowie die Bereitschaft zur beständigen ethischen Selbstprüfung.
Der Text beruht auf dem Festvortrag „Wissenschaft verantworten“, den Bischof Wolfgang Huber am 15. Juli 2007 anlässlich der ersten Promotionsfeier der Universität Tübingen hielt. Der Vortrag ist abrufbar unter
http://www.ekd.de/vortraege/huber/070715_huber_tuebingen.html