Die Rettung

Eine Geschichte weiter erzählen

In dem Labor herrschte Chaos. Rauch hing in der Luft, überall lagen zerborstene Gläser und Flaschen. Und ich musste eine Entscheidung treffen.

Mein Abitur hatte ich endlich in der Tasche, aber was nun weiter aus mir werden sollte, wusste ich nicht. Meine Eltern lagen mir deshalb ständig in den Ohren. Jeden Tag dieselbe Leier: Es gebe so viele interessante Berufe, dass doch auch für mich ein passender dabei sein müsse. Es könne doch nicht Sinn und Zweck des Lebens sein, in den Tag hinein zu leben. Ob ich denn gar keine Ziele hätte? Als der Vater von meinem Kumpel Micha mir den Job als Nachtwächter in seiner Praxis anbot, griff ich schon deshalb zu, weil ich auf diese Weise meine Ruhe hatte. Tagsüber konnte ich mich in mein Zimmer verkriechen und schlafen, und wenn mein Vater nach Hause kam, war ich schon halb auf den Weg zur Arbeit.


Michas Vater war Frauenarzt. Er hatte sich schon vor längerer Zeit auf künstliche Befruchtungen spezialisiert. Von Retortenbabies hat ja fast jeder schon mal etwas gehört, sogar ich, obwohl Biologie nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern gehörte. Offenbar kann man mit Retortenbabies eine Menge Kohle machen, die Praxis war jedenfalls ein richtiger Palast, ein Mittelding aus Klinik und Luxushotel. Im Anbau war ein Labor untergebracht, wo die Embryonen hergestellt und gelagert wurden. Dort war auch das Kabuff für den Sicherdienst. Meine Schicht fing abends um sieben an und dauerte zwölf Stunden. Ich war schon immer gern nachts wach, auch bevor der Stress mit meinen Eltern losging. Meine Aufgabe bestand in nichts weiter, als ein paar Mal jede Nacht durchs Gebäude zu wandern und nach dem Rechten zu sehen. Michas Vater zahlte gut, und zwischen meinen Rundgängen konnte ich in meinem Kabuff sitzen und Comics lesen oder DVDs gucken. Alles in allem war es ein sehr entspannter Job.


Nach einer Woche kreuzte überraschend Michas Vater auf. Mein Kollege von der Tagesschicht machte gerade die Übergabe. Es war witzig zu sehen, wie er vor Michas Vater stramm stand. Für mich ist er einfach nur der Vater eines Kumpels, aber für den Kollegen war er natürlich der Obergott. Michas Vater ging direkt auf mich zu und fragte mich, ob ich schon mal einen Embryo gesehen hätte.
„Äh, nein“, sagte ich. Keine sehr intelligente Antwort, zugegeben, aber es schien ihn nicht zu stören.
Ob ich mal einen sehen wolle, fragte er weiter. Genau genommen gehörten Embryonen nicht zu den Dingen, auf deren Anblick ich brannte. Andererseits wollte ich Michas Vater nicht vor den Kopf stoßen. Deshalb sagte ich höflich: „Okay, ich kann ja mal mitkommen.“


Das Labor war viel enger, als ich es mir vorgestellt hatte. An einem langen Tisch saß ein Mädchen. Sie musste etwa in meinem Alter sein. Sie fummelte gerade an irgendeinem Regler herum und sprang gleich auf, als wir hereinkamen, aber Michas Vater sagte, sie solle sich nicht stören lassen. Dann zeigte er auf einen freien Platz vor einem Mikroskop. Ich hätte lieber das Mädchen angeguckt, aber ich setzte mich brav hin und presste meine Augen an die beiden Okulare.
Es dauerte einen Moment, bis mein Blick sich richtig eingestellt hatten. Dann sah ich den Embryo. Er ähnelte einem Häuflein aneinanderklebender Seifenblasen. Während ich ihn anstarrte, kam es mir so vor, als ob er in der Nährflüssigkeit, in der er lag, leise zitterte. Vermutlich war das eine Täuschung, aber auf einmal wurde mir ganz komisch zumute. Ich stellte mir vor, dass aus diesen Seifenblasen mal ein Mensch werden würde. Und dann dachte ich daran, dass ich vor  etwas mehr als neunzehn Jahren genau so angefangen hatte wie die Seifenblasen da unterm Mikroskop.
Danach trat ich meinen Dienst an, aber der Embryo ging mir die ganze Nacht nicht aus dem Kopf. Statt eine DVD einzuschieben wie in den Nächten zuvor, fragte ich mich, was wohl mal aus ihm werden würde. Ich malte mir aus, wie ihm Arme und Beine wachsen und wie er dann auf die Welt kommen würde. Irgendwann würde er auf die Schule gehen und danach studieren. Am Ende kriegte er den Nobelpreis und rettete die Welt. Das waren natürlich lauter Hirngespinste, weil ja die meisten Menschen eher durchschnittlich sind. Es wäre schon ein riesiger Zufall, wenn ausgerechnet dieser eine Embryo, mein Embryo, den Nobelpreis bekäme. Aber vorstellen kann man sich alles Mögliche.


Michas Vater hatte mir erzählt, dass die Embryonen nicht alle geboren werden. Oft nisten sie sich gar nicht erst ein, weil irgendetwas schief geht, hatte er gesagt. Daran, dass seine Klinik in die Luft fliegen könnte, dachte er vermutlich nicht dabei. Nach der Explosion gab es eine Untersuchung von Feuerwehr und Polizei, und dabei kam dann ans Licht, dass ein Gasschlauch undicht geworden war. Wieso das bei all den Kontrollen passieren konnte, hat man aber nicht herausgefunden.
Ich saß in meinem Kabuff, als der Hausalarm losging. Ich kriegte einen solchen Schrecken, dass mir die Coladose aus der Hand rutschte, aus der ich gerade trinken wollte. Es gab eine Riesensauerei auf dem Fußboden. Aber mehr passierte erst mal nicht. In den Katastrophenfilmen wackeln ja immer gleich die Wände, wenn es irgendwo knallt, und der Putz bröckelt von der Decke. Aber hier in meinem Kabuff war nur der Alarm zu hören, und ich konnte sehen, wie die Colapfütze sich immer weiter ausbreitete.


Nachher stand in der Lokalzeitung diese Wahnsinnsstory über mich: „Mutiger Abiturient rettet Leben.“ Die Zeitungen schreiben oft einen ziemlichen Mist. Ich war kein bisschen mutig. Erst wischte ich die Colapfütze auf, und dann beschloss ich nachzusehen, welcher Idiot den Fehlalarm ausgelöst hatte. Dass der Alarm echt sein könnte, darauf kam ich zuerst gar nicht.
Sobald ich in den Gang bog, der zum Labor führte, erkannte ich allerdings den Ernst der Lage, wie es in der Zeitung nachher so schön hieß. Die Tür war weggesprengt, und beißender Rauch drang in den Flur. Vielleicht war ich in diesem Augenblick tatsächlich ein bisschen mutig. Weil ich nicht weitergelaufen bin, um mich in Sicherheit zu bringen, sondern nachgesehen habe.


In dem Labor herrschte Chaos. Rauch hing in der Luft, überall lagen zerborstene Gläser und Flaschen. Ein Tisch war umgekippt. Das Mädchen lag dahinter. Sie war dieselbe, die im Labor gewesen war, als Michas Vater mir den Embryo gezeigt hatte. Ihr Gesicht war blutüberströmt, und ein Bein stand in einem seltsamem Winkel ab. Zuerst dachte ich, sie wäre bewusstlos, aber dann hörte ich sie stöhnen.
„Ich komme“, rief ich. „Ich hole dich ’raus.“ Mit wenigen Schritten war ich bei ihr. Ich fasste sie unter den Achseln und versuchte sie vorsichtig hochzuziehen.
„Nein ...“
„Tut mir leid, das muss furchtbar wehtun.“ Ich verfluchte mich innerlich dafür, dass ich beim Erste-Hilfe-Kurs nicht besser aufgepasst hatte. „Ich bringe dich besser erst ins Freie, dann rufe ich den Krankenwagen.“
„Nein!“ Sie sah mich durchdringend an. „Bitte, du musst die Embryonen retten. Der Brutschrank ist transportabel.“
Ich weiß nicht, wie sie diesen Blick hinkriegte, trotz der Schmerzen, die sie doch sicher hatte, und trotz des Bluts, das ihr über die Wangen lief. Er war so intensiv, als hätte sie tief in sich drinnen eine Lampe angeknipst.
„Und du?“, fragte ich. „Bis die Feuerwehr hier ist, kann hier alles in die Luft fliegen.“

 

© Dr. Sibille Mischer


Aufgabenstellungen

  1. Der Ich-Erzähler hat die Wahl: Entweder er rettet die Embryonen oder die Frau. Lassen Sie den Ich-Erzähler eine Entscheidung treffen – und erzählen Sie die Geschichte weiter. Die Entscheidung, die Sie ihn treffen lassen, muss nicht dieselbe sein, die Sie selbst treffen würden.
  2. Schreiben Sie einen Brief, in dem der Erzähler seine Entscheidung rechtfertigt.
  3. Welche Entscheidung halten Sie selbst in dieser Situation für richtig? Begründen Sie Ihre Antwort.
  4. Angenommen, der Ich-Erzähler rettet die Frau und die Embryonen kommen um: Schreiben Sie die Geschichte aus der Perspektive der Frau. Was erzählt sie im Rückblick?
  5. Angenommen, der Ich-Erzähler rettet die Embryonen: Schreiben Sie die Geschichte aus der Perspektive eines Menschen, zu dem einer dieser Embryonen später herangewachsen ist.
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