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Wie steht das Judentum zur Forschung mit embryonalen Stammzellen?

Alfred Donath, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds

Alfred Donath, ehemaliger Präsident der ersten Ethikkommission an der Kantonalen Universitätsklinik Genf (Schweiz) äußert sich befürwortend zu dieser Forschung. Hier seine Argumente.

Ja zur Stammzellenforschung

» Die Ethik ist die Wissenschaft, welche sich mit den einzuhaltenden Regeln befasst, um das Gute zu tun und das Schlechte zu vermeiden. Für Juden ist es die Halacha, die ihr Verhalten im Leben definiert. Die Halacha basiert auf der Thora und ihren ewigen Werten, wird aber nichtsdestoweniger entlang den Entwicklungen des menschlichen Wissensstandes und hier im Speziellen der neuesten Errungenschaften der Wissenschaft einer konstanten Revision unterzogen.

Die Juden kennen weder einen Papst noch eine höhere Autorität, die der Beschlussfassung innerhalb neuer Domänen fähig wäre. Bestimmte rabbinische Entscheidungsträger, Poskim genannt, die über profunde talmudische Kenntnisse verfügen und auch immer öfter eine wissenschaftliche Ausbildung (in Medizin, Physik, Chemie, Biologie etc.) genossen haben, verfolgen die Fortentwicklung der Wissenschaften und studieren die Kompatibilität der neuen Erkenntnisse mit den grundlegenden Werten des Judentums. Sie erarbeiten Schlussfolgerungen und veröffentlichen diese. Einige von ihnen sind zwar konservativer als andere, aber nach und nach lässt sich zu jedem Thema ein Konsens herausarbeiten.

Leben schützen

Die Abstimmungsvorlage zur Verwendung von Stammzellen in der Forschung konfrontiert die Schweizer mit einem ethischen Problem, und die Juden müssen sich ganz speziell die Frage stellen, welchen Standpunkt die Halacha dazu einnimmt und ob es eine jüdische Haltung zu diesem Problem gibt.

 

Der erste Aspekt dazu bezieht sich auf die Bedeutung des menschlichen Lebens.

„Du sollst nicht töten“, lautet eines der Zehn Gebote. Andererseits aber muss der Mensch auch alles daran setzen, das Leben zu erhalten, und hat sogar die Pflicht, von all dem, was die Wissenschaft zu bieten hat, zu profitieren, um seine Gesundheit zu verbessern.

Dazu kommt, dass die künstliche Befruchtung und in jüngerer Zeit die In-vitro-Fertilisation Praktiken sind, die durch die überwiegende Mehrheit der Poskim unter genau definierten Regeln gutgeheissen werden: Es muss der medizinische Beweis der Unmöglichkeit einer natürlichen Fortpflanzung (respektive der Zwang, eine Frist von mehreren Jahren einzuhalten, bevor diese wieder versucht werden kann) vorliegen und es dürfen ausschliesslich Samenzellen des Ehepartners verwendet werden. Bei der aktuell dafür angewandten Technologie entstehen jeweils mehrere befruchtete Zellen, von denen aber lediglich zwei oder drei in den Uterus der künftigen Mutter eingepflanzt werden.

 

Dabei ist eine neue, grundlegende Frage aufgetaucht: Welchen Status besitzen diese überzähligen, nicht eingepflanzten Embryonen? Besteht das Recht, sie einzufrieren, um sie für allfällige spätere Einpflanzungen verwenden zu können? Und letztlich, aber am wichtigsten: Besteht das Recht, sie zu zerstören? Erinnern wir uns daran, dass die Halacha die Abtreibung verbietet, es sei denn, dass durch eine Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet wird.

 

Das dritte wesentliche Element stammt aus dem Talmud und findet sich bei anderen Religionen nicht: Für die Juden beginnt das Leben weder durch die Befruchtung noch durch die Geburt, sondern am 40. Tag der Schwangerschaft. Zuvor wird der Fötus nicht als eine Person, als ein menschliches Wesen betrachtet. Daraus könnte man extrapolieren, dass bis zu diesem 40. Tag die Möglichkeit besteht, überzählige Embryonen zu zerstören, und wenn sich auch nicht alle Poskim hinter diese Interpretation stellen, so tun es doch die meisten von ihnen. Raw Joseph Shalom Eliyashuv, der vermutlich einflussreichste der heutigen Poskim, wie im Übrigen vor ihm auch Raw Moshe Feinstein s. A., haben klar Stellung bezogen, indem sie die Zerstörung von Embryonen mit schweren gesundheitlichen Schäden, die demnach weder implantiert werden noch implantierbar sind, gutheissen.

Wenn die Zerstörung überzähliger Embryonen gutgeheissen wird, besteht folglich das Recht, sie zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen zu verwenden? Wenn dieser Eingriff in den ersten Tagen nach der Befruchtung erfolgt, dann beantwortet Rabbiner Moshe David Tendler, ein weiterer der grossen Poskim unserer Tage, diese Frage mit Ja. Es sind jedoch nicht alle seiner Meinung.

 

Für die Juden ist die Verwendung von embryonalen Stammzellen nur dann erlaubt,

wenn die entsprechende Forschung sich ausschliesslich an der therapeutischen Anwendung orientiert. Stammzellen beinhalten ein enormes Potenzial zur Heilung oder Unterdrückung gewisser Krankheiten oder schwerer Missbildungen. Vorerst noch unheilbare Krankheiten (wie Alzheimer) oder stark beeinträchtigende Krankheiten auszurotten gehört zu den wichtigsten Aufgaben der heutigen Medizin, ganz im Sinne der Wichtigkeit, die das Judentum dem Leben zuordnet. Gewisse Forscher könnten versucht sein, ihren Projekten die Zügel schiessen zu lassen. Umso wichtiger ist daher die Einschränkung auf das therapeutische Gebiet. Das Gesetz, über das abzustimmen die Schweizer aufgerufen sind, geht ebenfalls in diese Richtung. Der darin enthaltenen Leitplanken sind viele. Erwähnt sei hier zum Beispiel, dass den Forschern nicht erlaubt ist, selbst Embryonen zu Forschungszwecken zu produzieren; dass nur überzählige Embryonen verwendet werden dürfen und dass deren „Eltern“ dazu ihr schriftliches Einverständnis geben müssen; dass nur Projekte auf einem hohen wissenschaftlichen Niveau berücksichtigt werden und dies nur unter der Bedingung, dass es keine alternativen Forschungsmethoden gibt.«

 

Alfred Donath ist ehemaliger Präsident der ersten Ethikkommission an der Kantonalen Universitätsklinik Genf (Schweiz) und Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds in der Schweiz



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